Jakob Haringers Gedicht „Albumblatt“

JAKOB HARINGER

Albumblatt

Sommer durch die Lauben glüht,
Frühling zog vorbei –
Sing mir noch ein kleines Lied –
Kleines Lied vom Mai.
Wasser plätschern – trinken sacht
Meiner Armut Bild;
Einst ach hat die Frühlingsnacht
Mich in Samt gehüllt.
Sommer durch die Lauben glüht,
Frühling zog vorbei…
Sing mir noch ein kleines Lied –
Kleines Lied vom Mai

1921

aus: 100 Jahre Lyrik! Deutsche Gedichte aus zehn Jahrzehnten. Ausgesucht und mit einem Nachwort v. Axel Marquart. Haffmans Verlag, Zürich 1992

 

Konnotation

Mit einer euphorischen Naturbeschwörung scheint uns der Dichter Jakob Haringer (1898–1948) noch einmal mitten in eine Idylle zu locken: Sein „Albumblatt“ spricht vom vergehenden Frühling und dem allmählichen Aufglühen des Sommers. Eine einzige Vokabel stört hier die Friedlichkeit und Harmonie dieser Naturbilder: die „Armut“. Haringer, der Kriegsteilnehmer und Sympathisant der bayerischen Räterepublik, hatte ab 1921/22 keinen Grund mehr für erbauliche Weltbetrachtungen. Wegen diverser Delikte – u.a. Gotteslästerung – verfolgte ihn die Justiz; er begann ein unstetes Vagabundenleben und musste schließlich bettelarm in die Schweiz emigrieren.
In einer Notiz zu seinem 1921 erstmals gedruckten Frühlingsgedicht hat Haringer behauptet: „Zum größten Teil während der Schlächterei 1917 geschrieben.“ In den Gedichten, die dann ab den zwanziger Jahren entstanden, verflüchtigt sich jeder romantische Ton. Mit sarkastischer Bitterkeit protokollierte Haringer fortan die Demütigungen und Entbehrungen seiner nomadischen Dichter-Existenz.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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