Jakob Haringers Gedicht „O toller Mond“

JAKOB HARINGER

O toller Mond

lieber Gott such dir einen andern Trottel!
Ach das Leben diese Filzlaus der Seele
ist bloß ein Gespenst. O das schrecklichste ist der Mensch
und moderne Unglücke jagen. Jetzt
hätt ich grad noch schnell Zeit um zu sterben oder
soll ich lieber einen Cognak saufen?… lieber Gott,
da hast du eine Blume –
schick mir dafür ein Scheckbuch. Ach
nicht mal Nasenbohrn schmeckt mir heut, ich bin
also wirklich krank. Und Gerüche
klingeln durch die Friedrichstraß. Bevor ich stirb ach
möchte ich noch Eisbein und Blutorangen. O jetzt
lachst du wie Berberitzen… Pah, wirf die Weiber
weg wie abgenützte Zahnstocher, wie Kinobillets – –
laß Traurigkeit und Schmerz und Unruh – –
Das sind Geschäfte fürn lieben Gott. Aber
manchmal
schrieb ich Verse wie süße Pflaster und
mütterliche Arznein

1931

aus: 100 Jahre Lyrik! Hrsg. v. Axel Marquardt. Haffmans Verlag, Zürich 1992

 

Konnotation

Die Hoffnung auf eine bessere Welt hat sich der zeit seines Lebens heimatlose, von Asyl zu Asyl gehetzte Vagant und Dichter Jakob Haringer (1898–1948) früh abgewöhnen müssen. Der Sympathisant der Bayerischen Räterepublik begann ab 1920 ein unstetes Wanderleben, verfolgt von diversen Staatsgewalten, die ihm mit Anklagen wegen angeblicher Gotteslästerung und Anzeigen wegen Hausfriedensbruch und Meineid zusetzten. 1948 starb er völlig verarmt in der Schweiz.
Das fatalistische Gedicht, das sich von jeder höheren Ordnung abwendet, stammt aus einem 1931 veröffentlichten Privatdruck Haringers, der bezeichnenderweise den Titel Das Schnarchen Gottes trägt. Die conditio humana wird in diesem tief pessimistischen Daseinsprotokoll aus der Perspektive eines vollkommen desillusionierten Ich bestimmt: das Leben wird zur „gespenstischen“ Leidensstrecke, auf der einem jede religiöse Zuversicht geraubt wird. Nur das Schreiben von Gedichten rettet dem Ich vorübergehend das Leben.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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