Jakob van Hoddis’ Gedicht „Kinematograph“

JAKOB VAN HODDIS

Kinematograph

Der Saal wird dunkel. Und wir sehen die Schnellen
Der Ganga, Palmen, Tempel auch des Brahma,
Ein lautlos tobendes Familiendrama
Mit Lebemännern dann und Maskenbällen.

Man zückt Revolver. Eifersucht wird rege,
Herr Piefke duelliert sich ohne Kopf.
Dann zeigt man uns mit Kiepe und mit Kropf
Die Älplerin auf mächtig steilem Wege.

Es zieht ihr Pfad sich bald durch Lärchenwälder,
Bald krümmt er sich und dräuend steigt die schiefe
Felswand empor. Die Aussicht in die Tiefe
Beleben Kühe und Kartoffelfelder.

Und in den dunklen Raum – mir ins Gesicht –
Flirrt das hinein, entsetzlich! nach der Reihe!
Die Bogenlampe zischt zum Schluß nach Licht –
Wir schieben geil und gähnend uns ins Freie.

1911

 

Konnotation

Dieses Gedicht führt mitten hinein ins Zeitalter der Beschleunigung und protokolliert schon die ersten Signale kollektiver Faszination an bewegten Bildern. Der Film hatte sich gerade von den Jahrmärkten und Varietés emanzipiert und war auf dem Weg zum Massenmedium, als ihm der von Ätherräuschen und Nervenkrisen gehetzte Expressionist Jakob van Hoddis (1887–1942) eine ironische Würdigung schrieb. Der Text steht am Ende des Zyklus „Varieté“, der erstmals im Januar 1911 in der Zeitschrift Der Sturm erschien.
Bevor das Medium Film so richtig seine Wirkkraft entfalten kann, wird es im Poem des Jakob van Hoddis wegen seiner vordergründigen Illusionsbildung entzaubert. Die schnelle Bilderabfolge und das Collageprinzip des frühexpressionistischen Gedichts werden fast wörtlich zitiert („die Schnellen“, „nach der Reihe!“) – sie entsprechen der Schnitt-Technik des Films, die keine Wirklichkeit abbildet, sondern Zerrbilder miteinander verknüpft.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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