Joachim Ringelnatz’ Gedicht „Liedchen“

JOACHIM RINGELNATZ

Liedchen

Die Zeit vergeht.
Das Gras verwelkt.
Die Milch entsteht.
Die Kuhmagd melkt.

Die Milch verdirbt.
Die Wahrheit schweigt.
Die Kuhmagd stirbt.
Ein Geiger geigt.

1930

 

Konnotation

Die Literaturgeschichte kennt Joachim Ringelnatz (1879–1934) als schnoddrigen Poeten und Kabarettisten, der seine Themen und Motive in launige und lustige Verse fasst. Was er hier aber in der niedlichen Verkleinerungsform als „Liedchen“ dem Leser vorsetzt, verhandelt ein sehr ernstes Thema: das Vergehen der Zeit und die Sterblichkeit aller Geschöpfe.
Zum Jahresende 1930 erschien der Text erstmals in der Wochenzeitschrift Die Weltbühne. Die vier Verse der zwei Strophen folgen der einfachsten Satzkonstruktion: Subjekt und Prädikat, die sie achtmal wiederholen. Fast scheint es, als bilde sich in den jambischen Versen das Ticken einer Uhr ab. In dieser spröden Melodie der Vergänglichkeit taucht plötzlich eine düstere philosophische Sentenz auf: „Die Wahrheit schweigt.“ Die Philosophie findet offenbar keine Erklärung für das Verrinnen der Zeit. Und wenn in der letzten Zeile der Geiger sein Instrument spielt: Darf man hier auf die Unvergänglichkeit der Kunst hoffen?

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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