Johann Peter Hebels Gedicht „Neujahrslied“

JOHANN PETER HEBEL

Neujahrslied

Mit der Freude zieht der Schmerz
Traulich durch die Zeiten.
Schwere Stürme, milde Weste,
Bange Sorgen, frohe Feste
Wandeln sich zur Seiten.

Und wo eine Träne fällt,
Blüht auch eine Rose.
Schön gemischt, noch eh’ wir’s bitten,
Ist für Thronen und für Hütten
Schmerz und Lust im Lose.

War’s nicht so im alten Jahr?
Wird’s im neuen enden?
Sonnen wallen auf und nieder,
Wolken gehn und kommen wieder,
Und kein Wunsch wird’s wenden.

Gebe denn, der über uns
Wägt mit rechter Wage,
Jedem Sinn für seine Freuden,
Jedem Mut für seine Leiden
In die neuen Tage;

Jedem auf des Lebens Pfad
Einen Freund zur Seite,
Ein zufriedenes Gemüte,
Und zu stiller Herzensgüte
Hoffnung ins Geleite!

1834

 

Konnotation

Den poetischen Rang des evangelischen Theologen, Geschichtenerzählers und Dichters Johann Peter Hebel (1760–1826) erhellt am schönsten die Begeisterung des Philosophen Martin Heidegger, der einst schwärmte, Hebels Sprache sei „die einfachste, hellste, zugleich bezauberndste und besinnlichste die je geschrieben wurde“. Diese „Besinnlichkeit“ findet sich auch im „Neujahrslied“, einem der wenigen „hochdeutschen“ Gedichte, die Hebel geschrieben hat.
Die fünf fünfzeiligen Strophen, die in Hebels Sämmtlichen Werken von 1834 den Allemannischen Gedichten an die Seite gestellt wurden, offenbaren eine fromme Schicksalsergebenheit des Dichters. Dabei blicken sie gleichermaßen in die Vergangenheit und in die Zukunft, in denen Freude und Schmerz gleich und auch klassenlos („für Thronen und für Hütten“) verteilt sind. Bei aller biedermeierlichen Versöhnlichkeit ist bei Hebel die Erfahrung der Vergänglichkeit immer präsent: „Wird’s im neuen enden?“ Für den religiösen Dichter sind Demut und Daseinsbejahung identisch.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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