Johann Peter Hebels Gedicht „Rätsel“

JOHANN PETER HEBEL

Rätsel

Sie läuft die langen Straßen aus,
Schleicht unverschämt in jedes Haus,
Verratet alles, was sie kann,
Lügt alle, die ihr glauben, an,
Und ziert sich noch mit Fürstenschmuck die Stirne;
Wie heißt die freche Gassendirne?

um 1800

 

Konnotation

Rätselgedichte gehören seit der Frühgeschichte der Poesie zu den beliebtesten Formen der Gattung. Die Antike kennt die Orakelsprüche, auch Pindar, Heraklit oder Platon arbeiten mit Rebus und Rätseln. Im 19. Jahrhundert erlangt diese Form der Volksdichtung ungeheure Popularität. Der allemannische Kalendergeschichten-Erzähler und Mundartdichter Johann Peter Hebel (1760–1826) hat auch auf diesem Gebiet eine große Kunstfertigkeit entwickelt.
In diesem „Rätsel“ werden alle kritischen Urteile und Vorurteile über das Massenmedium Zeitung gebündelt: Wer den Boulevard beherrscht, sich „unverschämt“ Einblicke in die Intimsphäre der Bürger verschafft; wer alles Private in die Öffentlichkeit zerrt und die Lüge zum Erfolgsmodell macht – das kann nur die Zeitung sein und ihre Produzenten, die Journalisten. Die letzte Zeile des Rätsels verschärft die Anklage noch: Die Zeitung wird als spezielle Form der Prostitution desavouiert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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