Johann Wilhelm Ludwig Gleims Gedicht „Pflicht zu verliebten Gesprächen“

JOHAN WILHELM LUDWIG GLEIM

Pflicht zu verliebten Gesprächen

In den lauten Nachtigallen
lockt und schlägt und jauchzt die Liebe;
In der Lerche unterm Himmel
Lobt und tiriliert die Liebe;
In dem Enter auf dem Wasser
Schwimmt und schnattert nichts als Liebe;
In den Schwalben unterm Dache
Zwitschert, baut und spricht die Liebe;
In den Spatzen vor dem Fenster
lauscht und ruft und hüpft die Liebe;
In dem Täuber, in der Taube
Girrt und lockt und lacht die Liebe;
In den Tönen meiner Laute
Klingt und lobt und scherzt die Liebe;
In dem Kind auf meinem Schoße
Hüpft und scherzt und singt die Liebe:
Alles Wild in freiem Felde,
Alle Vögel unterm Himmel,
Haben Stimmen zu der Liebe;
Alles scherzt und spricht vom Lieben;
Soll ich denn davon nicht sprechen?

1744

 

Konnotation

Mitte des 18. Jahrhunderts überboten sich die deutschen Dichter in der pflichteifrigen Nachahmung einer antiken Dichtart: Die leichten Töne und Tändeleien des griechischen Dichters Anakreon wurden für die Lebenskultur des Rokoko adaptiert. Ein früher Pop-Star der anakreontischen Dichtung war Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803), der mit seinen 1744 erschienenen Versuchen in scherzhaften Liedern die Gattung neu begründete. In seinen formal schlichten Versen, wie in diesem frühen Text von 1744, geht es um heiteren Lebensgenuss, um Wein und Weib und um die Verherrlichung der (sinnlichen) Liebe.
Weil Gleim seine lyrischen Scherz- und Schäfer-Spiele in einer fast manischen Weise verfasste, erhob sich bald Protest und Spott gegen den Meister der kunstvollen Einfalt; seine Gedichte seien „gemeiniglich sehr nahe beim Läppischen“. Dichterkollegen wie Goethe, mit dem sich Gleim als ein Genie der Freundschaft verbunden sah, mokierten sich über den uferlos schreibenden Dichter, er sei „von sich selbst ein absterbendes Echo“ geworden.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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