Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Geist und Schönheit im Streit“

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Geist und Schönheit im Streit

Herr Geist, der allen Respekt verdient,
Und dessen Gunst wir höchlich schätzen,
Vernimmt, man habe sich erkühnt,
Die Schönheit über ihn zu setzen;
Er macht daraus ein großes Wesen.
Da kommt Herr Hauch, uns längst bekannt
Als würdiger Geistsrepräsentant,
Fängt an, doch leider nicht galant,
Dem Luderchen den Text zu lesen.
Das rührt den Leichtsinn nicht einmal,
Sie läuft gleich zu dem Prinzipal:
Ihr seid ja sonst gewandt und klug,
Ist denn die Welt nicht groß genug!
Ich laß Euch, wenn Ihr trutzt, im Stich;
Doch seid Ihr weise, so liebt Ihr mich.
Seid versichert, im ganzen Jahr
Gibts nicht wieder so ein hübsches Paar.

1814

 

Konnotation

Seine heitere Abhandlung über „Herrn Geist“ und „Herrn Hauch“ hat Goethe (1749–1832) zu den „Palinodien“ gerechnet – also zum lyrischen Genre des poetischen Widerrufs, der auf ein anderes bereits vorliegendes Gedicht reagiert. In „Herrn Hauch“ hat Goethe einen Zeitgenossen karikiert, den Epigrammatiker Friedrich Haug (1761–1829), der 1813 und 1814 im einflussreichen Cottaschen Morgenblatt unter anderem das Gedicht „Der Geist und die Schönheit. Keine Fabel“ veröffentlicht hatte.
Friedrich Haug hatte in seinem Epigramm eine klare Hierarchie aufgebaut und den „Geist“ über die „Schönheit“ triumphieren lassen. Goethe kann diese Rangordnung nicht akzeptieren und meldet Widerspruch an gegen die Zumutungen des „Herrn Hauch“. Während dieser der „Schönheit“ als leichtsinnigem „Luderchen“ die Leviten lesen will, verweist jene bei Goethe auf die ideale harmonische Einheit der vermeintlichen Konkurrenten. In einem Brief an den Verleger des Morgenblatts (im Februar 1814) plädiert Goethe überdies leidenschaftlich für die „herrliche Vermittlung“ von Geist und Schönheit.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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