Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Nähe des Geliebten“

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Nähe des Geliebten

Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
aaaaaVom Meere strahlt;
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
aaaaaIn Quellen mahlt.

Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege
aaaaaDer Staub sich hebt;
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
aaaaaDer Wandrer bebt.

Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen
aaaaaDie Welle steigt.
Im stillen Haine geh’ ich oft zu lauschen,
aaaaaWenn alles schweigt.

Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne,
aaaaaDu bist mir nah!
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.
aaaaaO wärst du da!

1795

 

Konnotation

Dieses Liebesgedicht zählt zu den am häufigsten vertonten Versen Goethes (1749–1832) und hat als Gesang über die Abwesenheit und gleichzeitige magische Präsenz des Geliebten eine ganze Generation von Lesern begeistert. Der 1795 entstandene Text ist das Resultat einer Überschreibung: Goethe hatte in der Vertonung des Komponisten Carl Friedrich Zelter (1758–1832) ein Gedicht der damals populären Schriftstellerin Friederike Brun (1765–1835) kennengelernt und wollte dem Lied gleichsam zu einem besseren Text verhelfen.
Es bleibt offen, welches Ich hier spricht: Die Goethe-Forschung nimmt an, dass es sich um Rollenlyrik handelt und eine Frau den abwesenden Geliebten preist – wie in Friederike Bruns Textvorlage. Die Liebessehnsucht jedenfalls artikuliert sich als inständige Beschwörung der Nähe. In jedem Naturzeichen ist das ferne Du sichtbar und fühlbar.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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