Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Was wird mir jede Stunde so bang?“

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Was wird mir jede Stunde so bang?

Was wird mir jede Stunde so bang? –
Das Leben ist kurz, der Tag ist lang.
Und immer sehnt sich fort das Herz,
Ich weiß nicht recht, ob himmelwärts;
Fort aber will es hin und hin,
Und möchte vor sich selber fliehn.
Und fliegt es an der Liebsten Brust,
Da ruhts im Himmel unbewußt;
Der Lebe-Strudel reißt es fort,
Und immer hängts an Einem Ort;
Was es gewollt, was es verlor,
Es bleibt zuletzt sein eigner Tor.

1818

 

Konnotation

Die denkwürdige Begegnung zwischen dem alternden Goethe (1749–1832) und der Bankiers-Gattin Marianne von Willemer (1784–1860) im Sommer 1815 hatte zu einem sympathetischen Verhältnis geführt, das den Dichter zu den „Hatem-“ und „Suleika“-Liedern aus dem West-Östlichen Divan inspirierte. Im Jahr 1816, nach dem Tod seiner Frau Christiane, brach Goethe den leidenschaftlichen Briefwechsel mit Marianne zunächst ab. Als 1818 Marianne zunehmend von der Schwermut aufgezehrt wird, schickt ihr Goethe einige Gedichte, die dann in den Divan aufgenommen werden.
Die Unruhe des Dichters, der sich emotionalen Zerreißproben ausgesetzt sieht, spiegelt sich in den kurzen Sätzen und einsilbigen Wörtern des im Juli 1818 entstandenen und Marianne gewidmeten Gedichts. Es wurde 1821 erstmals gedruckt, am Eingang des Romans Wilhelm Meisters Wanderjahre.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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