Jürgen Beckelmanns Gedicht „An einen in einem künftigen Kriege Gefallenen“

JÜRGEN BECKELMANN

An einen in einem künftigen Kriege Gefallenen

Wir haben kein Mitleid mit Dir.
Du hast Deine Nächsten zu Mördern gemacht.
Sie sind die Opfer der Möglichkeit, die Du
ihnen ließest. Wir sprechen Dich schuldig
getötet worden zu sein. Denn das
ist ebenso schuldhaft wie Töten.
Wir haben kein Mitleid mit Dir

Aber wir weinen.

1959

aus: Jürgen Beckelmann: Drohbriefe eines Sanftmütigen. Gedichte 1956–1976, Verlag Harald Schmid, Berlin 1977

 

Konnotation

Ich erinnere mich“, schreibt der am Tag von Hitlers Machtergreifung geborene Schriftsteller Jürgen Beckelmann, „wie ich in einem winzigen Ort bei München hausend, 1959 über diesem Gedicht saß, wie gehemmt ich war zu schreiben: ,Wir haben kein Mitleid mit dir.‘“ Tatsächlich ist der Entzug des Mitleids gegenüber Kriegsopfern eine Provokation.
Die Verweigerung von Mitleid ist nicht das Ergebnis eines Ressentiments, sondern Resultat nüchterner Reflexion. Die Mitwirkung als Soldat an kriegerischen Auseinandersetzungen wird im Gedicht kenntlich gemacht als Verstrickung in einen Schuldzusammenhang. Über zehn Jahre nach der Niederschrift seines Gedichts merkte Jürgen Beckelmann selbstkritisch an, dass er die letzte Zeile als sentimentalen und daher falschen Tröstungsversuch empfinde: Lyrisch vergossene Tränen seien als Abwehrzauber gegen die Brutalität von Kriegen untauglich.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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