Karl Kraus’ Gedicht „Nächtliche Stunde“

KARL KRAUS

Nächtliche Stunde

Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich’s ersinne, bedenke und wende,
und diese Nacht geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Tag.

Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich’s ersinne, bedenke und wende,
und dieser Winter geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Frühling.

Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich’s ersinne, bedenke und wende,
und dieses Leben geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Tod.

1930

 

Konnotation

Sein gesamtes publizistisches Leben verstand der gefürchtete Wiener Literaturkritiker Karl Kraus (1874–1936) als „engste und strengste Sprachprobe“. Nach 1914 vollzog er die „Sprachprobe“ an der Königsdisziplin unter den Gattungen, der Lyrik. Als primäres Transformationselement bei der „unmittelbarsten Übertragung… eines Gefühlten oder Gedachten, Angeschauten oder Reflektierten“ predigte er den Reim. Ein Meisterstück unter seinen Worten in Versen (1914–1930) ist die dreistrophige Nocturne.
Die zwei Anfangszeilen jeder Strophe sind vollkommen identisch, auch die übrigen zwei basieren auf nur leicht variierten Wiederholungen. Alles ist hier auf Vergänglichkeit gestimmt: Zunächst scheint die Verheißung des Tagesanbruchs und in der zweiten Strophe die Ankündigung des Frühlings noch auf ein Zeichen der Hoffnung hinzudeuten. Aber der Vergänglichkeits-Befund weitet sich aus zur Gewissheit über das Ende des Lebens.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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