Karl Mickels Gedicht „Reisezehrung“

KARL MICKEL

Reisezehrung

aaaDrei Dinge sind es, die ich brauche jetzt:
Zum ersten) Geld für etwa drei/vier Jahre
Daß ich vor Kälte meine Zehen wahre
Für Nahrung und was sonst den Gaumen letzt –
aaaZum andern) an des Rands Peripherie
Ein Notquartier, wo ich die Knochen strecke
Sobalde ich, daß keines mich entdecke
Den Schal zum Kinn, den Hut zur Nase zieh –
aaaUnd drittens schließlich) zwischen Zung und Zahn
Falls, wie zu fürchten, alle Fäden reißen
Das Käpselchen, gefälligst zum Zerbeißen
Was mir zu tun war, ist alsdann getan –
aaaDer ich in Deutschland, dieses schreibend, sitze
Fühle es rollen auf der Zungenspitze.

1996/1997

aus: Karl Mickel: Geisterstunde. Wallstein Verlag, Göttingen 2004

 

Konnotation

In Goethes Sonett „Reisezehrung“ von 1807/08 entdeckte der skeptische Marxist Karl Mickel (1935–2000) dereinst die „bündigste Erklärung“ für das Ideal der „Entsagung“. Den Genuss von Wein und Schlaf und übermäßigen Speisen hatte Goethes Ich ebenso auf Distanz gehalten wie „die Gesellschaft“. Diesem Verzicht-Programm stellt Mickel in seiner eigenen Version der „Reisezehrung“, dem Ende der 1990er Jahre entstandenen Sonett, einen Katalog von Forderungen gegenüber.
Das Ich imaginiert sich als nomadisierendes Subjekt, das keine feste Bleibe hat und von einem Notquartier zum nächsten ziehen muss. Auf den eigenen Untergang ist dieses Außenseiter-Ich aber gut vorbereitet. Wenn die grundlegenden Bedürfnisse nicht mehr befriedigt werden können, bleibt als Ausweg immer noch der Suizid. Es ist ein finsterer Ausblick auf die Möglichkeiten gelingenden Lebens im wiedervereinigten Deutschland.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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