Klabunds Gedicht „Ein Bürger spricht“

KLABUND

Ein Bürger spricht

Am Sonntag geh’ ich gerne ins Café.
Ich treffe viele meinesgleichen,
Die sich verträumt die neuste Anekdote reichen –
Und manche Frau im Negligé.

Sie sitzt zwar meist bei einem eleganten
Betrübten Herrn –
Ich sitz’ bei meinen Anverwandten
Und streichle sie von fern.

Ich streichle ihre hold entzäumten Glieder
Und fühle ihr ein wenig auf den Zahn.
Der Ober lächelt freundlich auf mich nieder.
Ein junger Künstler pumpt mich an.

Bei dem mir angetrauten Fleisch lieg ich dann
nachts im Bette
Und denke an mein Portemonnaie.
Wenn ich ihm doch die fünf Mark nicht geliehen
hätte!
O süße Frau im Negligé!

1914

 

Konnotation

Er konnte freche und blasphemische Verse aus dem Ärmel schütteln wie niemand sonst unter seinen literarischen Zeitgenossen der Weimarer Republik. Die fieberhafte Produktivität des Dichters Klabund (1890–1928), des Apothekersohns aus Crossen (Thüringen), erklärt sich aus dem Wettlauf mit dem Tod, den der tuberkulosekranke Künstler 1913 mit seinem literarischen Debütbuch Morgenrot! Klabund! Die Tage dämmern! begann. Bis zu seinem Tod 1928 verfasste er in dichter Folge 76 Bücher: Gedichte, Schwänke, Grotesken, Romane. Sein liebster Feind war der Spießbürger.
Die erotische Wunschphantasie eines „Bürgers“ von der außerehelichen Eroberung einer „Frau im Negligé“ ist 1914 entstanden. Der Müßiggänger im Caféhaus gestattet sich einen Flirt aus sicherer Distanz, die attraktive Dame bleibt jedoch mitsamt der von ihr verkörperten Libertinage unerreichbar. In der letzten Strophe setzt Klabund den tristen libidinösen Alltag des „Bürgers“ recht drastisch ins Bild. Die Gedanken des Möchtegern-Libertins sind am Ende nur noch fixiert auf den schnöden Mammon.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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