Kurt Schwitters Gedicht „Sonnett“

KURT SCHWITTERS

Sonnett

Bei gutem Wetter bin ich liberal,
Bei schlechtem ist die Landschaft meistens kahl,
Der Berg ist höher als das tiefste Tal.
Was wär’ die Menschheit ohne Ideal?!

Die Ideale sind des Lebens Brot,
Denn ohne Ideale ist man tot.
Der Reim befreit den Dichter aus der Not,
Wenn er ein Reimemacher ist aus echtem Schrot.

Dann legt er morgens schon im frühen Bette
die klangvoll lyrisch herrlichen Sonnette,
Die reimen von der Menschheit hohen Taten

Und stehen schon beim ersten Frühstück Paten.
Was wär die Menschheit ohne Ideale,
Ihr bliebe statt des Reims die hohle Schale.

1930er Jahre

aus: Kurt Schwitters: Das literarische Werk Bd. I: Lyrik, DuMont Buchverlag, Köln 1973

 

Konnotation

Kurt Schwitters (1887–1948) war einer der inspiriertesten Köpfe der expressionistischen und dadaistischen Literaturrevolution. Er brillierte nicht nur als Dichter und Aktionskünstler, sondern auch als Collage-Künstler, „Merz“-Maler, Architekturtheoretiker und Werbegrafiker. Seine Kunstwerke realisieren den totalen Zugriff auf das ästhetische Material: Schwitters sammelte, klebte, nagelte, malte, rezitierte und erfand Konstellationen „am liebsten zwischen allen Dingen der Welt“.
Berühmt geworden ist er durch seine Laut- und Simultangedichte, in denen das sprachliche Material in einzelne Silben, Buchstaben, Laute und ihre Rhythmik zerlegt und neu gruppiert wird. Schwitters hat aber auch mit konventionellen Formen und Reimen experimentiert, das „Schöne Triviale“ genutzt und den Reim im klassischen „Sonnett“ auf vergnügliche Wege geführt. In diesem Gedicht aus den 1930er Jahren wird der Reim herrlich parodiert und das Sonnett aller Feierlichkeit entkleidet.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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