Kurt Tucholskys Gedicht „Blick in die Zukunft“

KURT TUCHOLSKY 

Blick in die Zukunft

Du schläfst bei mir. Da plötzlich, in der
Nacht, du liebe Dame,
Bist du mit einem Laut mir jäh erwacht –
War das ein Name?

Ich horche. Und du sagst es noch einmal –
Im Halbschlaf: „Leo…“
Bleib bei der Sache, Göttin meiner Wahl!
Ich heiße Theo.

Noch bin ich bei dir. Wenn die Stunde
Naht, da wir uns trennen:
Vielleicht lernt dich dann ein Regierungs-
rat im Teeraum kennen.

Und gibst du seinen Armen nachts dich preis,
den stolzen Siegern: –
Dann flüstre einmal meinen Namen leis
Und denk an Tigern.

1920

 

Konnotation

Die publizistischen Aktivitäten des enorm vielseitigen Schriftstellers Kurt Tucholsky (1890–1935) erreichten im Jahr 1920 einen ersten Höhepunkt. In diesem Jahr präsentierte er sich unter diversen Pseudonymen in politisch gegensätzlichen Blättern wie dem linksliberalen Berliner Tageblatt, der linkspluralistischen Weltbühne, dem USPD-Organ Die freie welt, der eher rechten Agitationszeitschrift Pieron und nicht zuletzt in der Kabarett-Zeitschrift Schall und Rauch, in der er als „Theobald Tiger“ ein zauberhaftes Liebesgedicht veröffentlichte.
Die Liebe, wie sie Tucholskys Alter Ego „Theo“ hier entwirft, ist eine sehr provisorische, die man heute als One-Night-Stand zu charakterisieren pflegt. Das zärtliche Spiel ist befristet und unterliegt offenbar einigen Zufallsgegebeneheiten auf dem freien Markt der erotischen Affekte. Das Ich ist der Untreue der „Göttin seiner Wahl“ jedenfalls gewiss –  die Geliebte einer Nacht wird sich den „Siegern“ zuwenden und den Repräsentanten der Macht. Der erotische Underdog hofft jedoch, als besonders zärtlich Liebender in Erinnerung zu bleiben.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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