Kurt Tucholskys Gedicht „Luftveränderung“

KURT TUCHOLSKY

Luftveränderung

Fahre mit der Eisenbahn,
fahre, Junge, fahre!
Auf dem Deck vom Wasserkahn
wehen deine Haare.

Tauch in fremde Städte ein,
lauf in fremde Gassen;
höre fremde Menschen schrein,
trink aus fremden Tassen.

Flieh Betrieb und Telefon,
grab in alten Schmökern,
sieh am Seinekai, mein Sohn,
Weisheit still verhökern.

Lauf in Afrika umher,
reite durch Oasen;
lausche auf ein blaues Meer,
hör den Mistral blasen!

Wie du auch die Welt durchflitzt
Ohne Rast und Ruh – :
Hinten auf dem Puffer sitzt
du.

1924

 

Konnotation

Das Jahr 1924 brachte für den Publizisten und Dichter Kurt Tucholsky (1890–1935) eine entscheidende Zäsur: Er ging als Korrespondent der Berliner Wochenschrift Die Weltbühne und der Vossischen Zeitung nach Paris, um sich dort, wie er in einem Gedicht schrieb, „vom Vaterlande auszuruhen“. Die Euphorie dieser Lebenswende manifestiert sich in dem kleinen Chanson „Luftveränderung“, einem Plädoyer für Mobilität, Urbanität und Lebens-Neugier.
Man hat das Gedicht auch als Bekenntnis zum neuen modernen Verkehrsmittel Eisenbahn gelesen und vor allem die ersten und die letzten beiden Zeilen des Textes häufig zitiert. Es geht indes in einem viel umfassenderen Sinn um die Bereitschaft und Begeisterung für das Reisen und für die Begegnung mit fremden Kulturen. Unter dem Pseudonym „Theobald Tiger“ hat Tucholsky das Gedicht erstmals in der Berliner Illustrierten Zeitung vom 21.12.1924 veröffentlicht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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