Ludwig Tiecks Gedicht „Zeit“

LUDWIG TIECK

Zeit

So wandelt sie im ewig gleichen Kreise,
Die Zeit, nach ihrer alten Weise,
Auf ihrem Wege taub und blind;
Das unbefangne Menschenkind
Erwartet stets vom nächsten Augenblick
Ein unverhofftes seltsam neues Glück.
Die Sonne geht und kehret wieder,
Kommt Mond und sinkt die Nacht hernieder,
Die Stunden die Wochen abwärts leiten,
Die Wochen bringen die Jahreszeiten.
Von außen nichts sich je erneut,
In dir trägst du die wechselnde Zeit,
In dir nur Glück und Begebenheit.

1798

 

Konnotation

Der als „König der Romantik“ verehrte Ludwig Tieck (1773–1853) beeindruckte seine literarischen Zeitgenossen durch eine immense Produktivität. Mit Franz Sternbalds Wanderungen (1798) verfasste er den ersten romantischen Künstlerroman, die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, die Tieck 1796 gemeinsam mit Wackenroder verfasste, gelten als die ästhetische Gründungsschrift der Romantik. Auch auf dem Feld der Lyrik vermochte er mit seinen frühen Texten zu brillieren; etwa mit dem 1798 entstandenen Versuch über die Zeit.
Der Anrufung der Zeit in ihrer ewigen Kreisstruktur ist ein utopisches Motiv beigemischt. Zwar verläuft die zyklische Wiederkehr der Tages- und Nachtzeiten, der Stunden, Wochen und Monate nach einem „blinden“ Automatismus. Aber aus Tiecks romantischer Perspektive erwartet der Mensch von der Zukunft eine Verheißung des Glücks. Während sich äußerlich nichts verändert, gibt es doch einen Glauben an ein besseres Morgen, dem Tiecks Kollege Friedrich von Hardenberg den Namen „goldenes Zeitalter“ gab.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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