Luise Hensels Gedicht „Nachtgebet“

LUISE HENSEL

Nachtgebet

Müde bin ich, geh’ zur Ruh’,
Schließe beide Äuglein zu:
Vater, lass die Augen Dein
Über meinem Bette sein!

Hab’ ich Unrecht heut’ gethan,
Sieh’ es, lieber Gott, nicht an!
Deine Gnad in Jesu Blut
Macht ja allen Schaden gut.

Alle, die mir sind verwandt,
Gott, lass ruhn in Deiner Hand,
Alle Menschen, groß und klein,
Sollen Dir befohlen sein.

Kranken Herzen sende Ruh’.
Nasse Augen schließe zu!
Lass den Mond am Himmel stehn
Und die stille Welt besehn!

1816

 

Konnotation

Wer nach Gründen für die katholische Konversion des Romantikers Clemens Brentano (1778–1842) sucht, wird sie in seiner Verehrung der Berliner Pfarrerstochter Luise Hensel (1798–1876) finden, die selbst 1818 vom protestantischen zum katholischen Glauben übertrat. Das auch von Wilhelm Müller (1794–1827) umworbene fromme Mädchen wird von Brentano als ideale Braut angehimmelt; Luise Hensel hielt jedoch die Freier auf Abstand und erklärte das sinnliche Begehren zur Sünde.
Die Romantiker waren von der kindlichen Schlichtheit des 1816 entstandenen „Nachtgebets“ fasziniert, vermochten aber selbst durch raffinierte Mimikry nie die hier evozierte Hingabe an den Schöpfergott zu erreichen. Luise Hensel schrieb auch eine Reihe von Freundschafts- und Klagegedichten, die Brentano später unter eigenem Namen veröffentlichte und die neu zu entdecken wären.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00