Magnus Gottfried Lichtwers Gedicht „Die Schlange“

MAGNUS GOTTFRIED LICHTWER

Die Schlange

In Africa war eine Schlange,
Die alle Tier ohn Ursach biß,
Und was sie biß, das triebs nicht lange,
Die Wunde schwall, es starb gewiß.

Dies ging ihr lange Zeit von statten,
Bis, da sie einst im Grase spielt,
Sie endlich ihren eignen Schatten
Vor eine fremde Schlange hielt.

Da biß sie, weil sie es nicht wußte,
Mit einer solchen Wut nach sich,
Daß sie sofort verrecken mußte,
Daran, Verleumder, spiegle dich.

1761

 

Konnotation

Sein Bewunderer Goethe rechnete ihn unter „die besten Köpfe“ der Aufklärung. Den Respekt des Dichterfürsten verdiente sich der Jurist, Rechtsphilosoph und Dichter Magnus Gottfried Lichtwer (1719–1783) mit seinen Vier Büchern äsopischer Fabeln in gebundener Schreibart (1748) und den 1761 publizierten Auserlesenen, verbesserten Fabeln und Erzählungen in zweyen Bücher. Sein erstes Buch, die äsopischen Fabeln hatte Lichtwer noch anonym veröffentlicht, mit seinen späteren Publikationen zog er dann den Zorn der Zensur auf sich.
„Die Schlange“ gilt in den Fabeln der Aufklärung generell als hinterhältiges Tier. Auch in Lichtwers Zwölfzeilern wird sie als besonders aggressive und mörderische Kreatur dargestellt. Schließlich wird sie selbst das Opfer ihrer brutalen Biss-Lust: In einer Art von biologischem Slapstick fügt sie sich selbst die tödliche Wunde zu. Diese kuriose Fabel ist als Polemik gegen jene menschliche Spezies zu lesen, die Lichtwer als Aufklärer fürchten musste: den Denunzianten, der sich bei den jeweils Mächtigen anbiedern will.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00