Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Kleine Ballade“

MARIE LUISE KASCHNITZ

Kleine Ballade

Kehre ich heim in mein Vaterhaus
Find ich alle vier Wände im Lot
Einen Rasen wie Samt einen Stacheldrahtzaun
Eine Tafel mit Bettelverbot
Trägt mein Vater einen gut sitzenden Rock
Meine Mutter den seidensten Staat
Fällt mir bei Tisch mein Bruder ein
Der Tote der Soldat
Grab ich ihn aus setz ich ihn hin
Zwischen Fleißiges Lieschen zum Stein
Jetzt hast Du ein Bett jetzt wirst Du satt
Komm heim.
Wiegt er die Stirne einerlei
Hat die Hände voll weißem Brot
Steht auf geht hin am Haus vorbei
Gradwegs ins Morgenrot.

1950er Jahre

aus: Marie Luise Kaschnitz: Gesammelte Werke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1985

 

Konnotation

Im Nachlass der Dichterin Marie Luise Kaschnitz (1901–1974) findet sich diese „kleine Ballade“, die gegen die gut situierte, geschichtsvergessene Bürgerlichkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft aufbegehrt. Nach langer Abwesenheit scheint eine verlorene, ungebärdige Tochter ins Elternhaus zurückzukehren. Dort herrscht eine zwanghafte Harmonie und eine gegen die Unwirtlichkeit der Außenwelt abgeschottete Ordnung. Diese „gut sitzende“ heile Welt des Elternhauses gerät durch die Erinnerung des lyrischen Ich ins Wanken.
Die Erinnerung gilt dem toten Bruder, der im Krieg ums Leben gekommen ist. Gleich der antiken Figur der Antigone lehnt sich die Tochter auf gegen die alte göttliche Ordnung und stellt auf sehr eigensinnige Weise die Verbindung zum toten Bruder her. Biblische Motive der Auferstehung verbinden sich mit der Hoffnungs-Metapher vom „Morgenrot“, die vor allem in der sozialistischen Bewegung eine zentrale Rolle spielt. Es ist eine trotzige Geste, mit der hier das „Morgenrot“ gegen die dem Untergang geweihte Bürgerwelt gesetzt wird.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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