Marie von Ebner-Eschenbachs Gedicht „Grabschrift“

MARIE VON EBNER ESCHENBACH

Grabschrift

Im Schatten dieser Weide ruht
Ein armer Mensch, nicht schlimm noch gut.
Er hat gefühlt mehr als gedacht,
Hat mehr geweint als er gelacht;
Er hat geliebt und viel gelitten,
Hat schwer gekämpft und – nichts erstritten.
Nun liegt er endlich sanft gestreckt,
Wünscht nicht zu werden auferweckt.
Wollt Gott an ihm das Wunder tun,
Er bäte: Herr, o laß mich ruhn!

nach 1884

 

Konnotation

Die Freifrau aus altösterreichischem Uradel versuchte sich zunächst erfolglos als Dramatikerin, um dann erst 1884 mit der mehrfach verfilmten Novelle Krambambuli einen gigantischen Erfolg zu landen. In dieser Erzählung, in der die Tierliebe ins Kitschhafte getrieben wird, sind alle Motive versammelt, die Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916) berühmt gemacht haben: die Kritik am Standesdünkel des Adels und die Heimatverbundenheit. In anderen Erzählungen findet man auch Spurenelemente eines frühen feministischen Selbstbewusstseins.
Die wenigen Gedichte ihres Œuvres beschränken sich auf spruchhafte Denkbilder, die in konventionelle Formen – wie hier in Paarreime – gefasst sind. Der „arme Mensch“, der „geliebt“ und „viel gelitten“ hat, ist das Stereotyp vieler Sinnsprüche. Das schwer strapazierte Individuum der Marie von Ebner-Eschenbach unterscheidet sich von den Trostformeln so vieler mittelmäßiger Gedichte allenfalls durch eine Verweigerung religiöser Demut.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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