Marie von Ebner-Eschenbachs Gedicht „Lebenszweck“

MARIE VON EBNER-ESCHENBACH

Lebenszweck

Hilflos in die Welt gebannt,
Selbst ein Rätsel mir,
In dem schalen Unbestand,
Ach, was soll ich hier?

– Leiden, armes Menschenkind,
Jede Erdennot,
Ringen, armes Menschenkind,
Ringen um den Tod.

1893

 

Konnotation

Eine kluge Frau hat Millionen potenzieller Feinde – alle dummen Männer“: Solchen Sentenzen verdankt die österreichisch-mährische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916), die als Gräfin Dupsky in einer tschechischen Adelsfamilie aufwuchs, ihre ungebrochene Beliebtheit bei der feministischen Literaturwissenschaft. In den 1960er Jahren gehörte ihre Prosa noch zum schulischen Kanon im Deutschunterricht, war ihr Rang als bedeutende deutschsprachige Erzählerin des 19. Jahrhunderts unumstritten.
Zu den wenigen Gedichten der bürgerlichen Realistin gehören die anrührenden acht Verse über den „Lebenszweck“ mit ihrem zutiefst pessimistischen Menschenbild. Als einzig mögliche Existenzform des „armen Menschenkindes“ in einer undurchschaubaren Welt wird das „Leiden“ beschworen, Einen Ausweg aus der „Erdennot“ gibt es hier nicht. Erstmals publiziert wurde das Gedicht 1893 in der Sammlung der Aphorismen, Parabeln, Märchen und Gedichte.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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