Martin Walsers Gedicht „Prophezeiung“

MARTIN WALSER

Prophezeiung

Ich fahr im Zug im Abendrot
an der Musik vorbei bis in den Tod
dann wächst die Erbse mir im Ohr
die frißt der Kuckuck auf und kotzt
ein Requiem ins Abendrot

1964

aus: Die Meisengeige. Zeitgenössische Nonsensverse, hrsg. v. Günter Bruno Fuchs, Carl Hanser Verlag, München-Wien 1962

 

Konnotation

Der 1927 geborene Martin Walser hatte sich gerade mit seinem Roman Halbzeit als Großschriftsteller der jungen Bundesrepublik und als literarischer Aktivist für die SPD Willy Brandts etabliert, als er sich in einer Anthologie mit „Nonsensversen“ auch als Lyriker vorstellte.
Trotz der absurd-komischen Züge, die diese „Prophezeiung“ aufweist, ist doch hier wieder ein typisches Walser-Ich zu besichtigen, das wie in den besseren Büchern des Autors von prinzipieller Unzugehörigkeit, von Hoffnungsarmut, Lebensmüdigkeit und Todesnähe spricht. In seinen Tagebüchern 1951–1962 dokumentierte Walser später die gattungsmäßige Vielseitigkeit seiner Arbeit: Neben der Arbeit am Halbzeit-Roman schrieb er Gedichte, die – wie die späteren Aufzeichnungs-Bücher – die „Entblößung und Verbergung“ des Ich gleichermaßen „extrem“ ermöglichen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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