Matthias Claudius’ Gedicht „Christiane“

MATTHIAS CLAUDIUS

Christiane

Es stand ein Sternlein am Himmel,
Ein Sternlein guter Art;
Das tät so lieblich scheinen,
so lieblich und so zart!

Ich wußte seine Stelle
Am Himmel, wo es stand;
Trat abends vor die Schwelle
Und suchte, bis ichs fand;

Und blieb dann lange stehen,
Hatt große Freud in mir
Das Sternlein anzusehen,
Und dankte Gott dafür.

Das Sternlein ist verschwunden;
Ich suche hin und her,
Wo ich es sonst gefunden,
Und find es nun nicht mehr.

1796

 

 

Konnotation

Als am 2. Juli 1796 seine zweite Tochter Christiane im Alter von 21 Jahren an Typhus gestorben war, schrieb der fromme Pastorensohn und Dichter Matthias Claudius (1740–1815) ein Gedicht von überwältigender Trauer. In herzzerreißendem Märchen-Ton gehalten, verwandelt das Gedicht die Gestalt der innig geliebten Tochter in einen Hoffnungs-Stern.
Erst die ausdrückliche Namensnennung im Titel deutet an, dass der verlorene Stern ein innig geliebter Mensch ist. Bekannt geworden ist Claudius: anrührendes Poem aber als ein Liebesgedicht. Denn Achim von Arnim und Clemens Brentano haben den Text in ihre Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn aufgenommen und haben dabei die persönliche Dedikation weggenommen. Statt dessen haben sie es mit „Der verschwundene Stern“ betitelt. Damit erscheint es nun als ein exemplarisches Gedicht über einen Liebesverlust.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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