Matthias Claudius’ Gedicht „Der Mensch“

MATTHIAS CLAUDIUS

Der Mensch

Empfangen und genähret,
vom Weibe wunderbar;
Kommt er und sieht und höret,
Und nimmt des Trugs nicht wahr;
Gelüstet und begehret,
Und bringt sein Tränlein dar;
Verachtet, und verehret;
Hat Freude, und Gefahr;
Glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,
Hält nichts, und alles wahr;
Erbauet, und zerstöret;
Und quält sich immerdar;
Schläft, wachet, wächst, und zehret;
Trägt braun und graues Haar;
Und alles dieses währet,
Wenn’s hoch kommt, achtzig Jahr.
Dann legt er sich zu seinen Vätern nieder
Und er kömmt nimmer wieder.

1775

 

Konnotation

Seine poetischen Konkurrenten Goethe und Schiller hatten für den Dichter Matthias Claudius (1740–1815) nur Spott und Verachtung übrig. Dabei hat der aus dem holsteinischen Reinfeld stammende Pastorensohn Claudius mit seinem „Abendlied“ und dem Lebensbild „Der Mensch“ zwei der herzrührendsten deutschen Gedichte überhaupt geschrieben.
Claudius war nicht nur der Verfasser frommer, volksliedhafter Verse, in denen sich das Staunen über die Existenz des Menschen und die demütige Gewissheit seiner Vergänglichkeit ausspricht, sondern auch ein erfolgreicher Journalist, der aus dem Provinzblatt Der Wandsbecker Bothe ab 1772 eine Zeitung von nationalem Rang machte. In seinem 1775 entstandenem Gedicht „Der Mensch“ hat Claudius bei aller Naivität des Tons einige schroffe Ernüchterungen eingeschmuggelt: Denn er zeichnet den Menschen als verführbares Wesen, das für „Trug“ und Einflüsterungen aller Art anfällig ist. Auch ein Trost angesichts der Sterblichkeit wird verweigert: „Und er kömmt nimmer wieder.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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