Matthias Claudius’ Gedicht „Der Tod und das Mädchen“

MATTHIAS CLAUDIUS

Der Tod und das Mädchen

Das Mädchen.
Vorüber! Ach vorüber!
Geh wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh lieber!
Und rühre mich nicht an.

Der Tod.
Gib deine Hand, Du schön und zart Gebild!
Bin Freund, und komme nicht, zu strafen.
Sey gutes Muths, ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen schlafen!

1775

 

Konnotation

Der berühmte Dialog zwischen dem Mädchen und dem Tod, den der fromme Pastorensohn und Dichter Matthias Claudius (1740–1815) erdacht hat, ist zunächst die Szene einer gefährlichen Verführung. Ein Mädchen will die Zudringlichkeiten eines „wilden Knochenmanns“ auf Distanz halten und unberührt bleiben. Der Zurückgewiesene strapaziert daraufhin seine ganze Überzeugungskraft und mobilisiert alle erdenklichen Schmeicheleien, um an sein Ziel zu kommen.
Der Kern des 1775 erstmals publizierten Dialog-Gedichts, dem auch die romantische Vertonung Franz Schuberts folgt, ist die Situation eines offenbar sterbenskranken Mädchens, das den Tod fürchtet und von diesem besänftigt wird. Eine Lesart des Textes geht davon aus, dass Claudius mit seiner Darstellung des Todes dem Sterben seinen Schrecken nehmen wollte. Der Knochenmann, so Claudius in einer Betrachtung über Todesbilder, erscheine ihm „recht schön, und wenn man ihn lange ansieht, wird er zuletzt ganz freundlich anzusehen“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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