Mechthild von Magdeburgs Gedicht „Gott ähnelt der Seele in fünf Dingen“

MECHTHILD VON MAGDEBURG

Gott ähnelt der Seele in fünf Dingen

O du schöne rose im dickicht!
O du fliegende biene am honig!
O du reine taube in deinem fortbestehen!
O du schöne sonne mit deinem glanz!
O du vollmond wie du stehst!
Ich vermag mich nicht von dir abzuwenden.

(übersetzt von Thomas Kling)

nach 1250

 

Konnotation

Was wir über die erste deutsche Mystikerin wissen, die im Alter von 12 Jahren „vom Gruß des Heiligen Geistes mit so überwältigender Macht getroffen wurde“ und ab 1250 ihre ekstatischen Visionen und Gedanken niederschrieb, verdanken wir im wesentlichen einer lateinischen Übersetzung. Das niederdeutsche Original ihrer siebenbändigen Schrift Das fließende Licht der Gottheit ist nicht erhalten. Aber die Texte Mechthild von Magdeburgs (1207/08 – ca. 1282) ähneln sich in ihrer dialogischen Struktur: Es geht um die Chronik einer Seele, die ergriffen ist von ihrer Sehnsucht nach Gott.
Man hat Mechthilds Texte als Vorform autobiografischen Schreibens deuten wollen. Aber nur durch den Bezug auf ein göttliches „Du“ kann sich ein Ich ausbilden. Das „Du“ meint immer den himmlischen Bräutigam. So gilt das Lob der Naturerscheinungen im vorliegenden Text zugleich der Herrlichkeit Gottes. Das Ich, das sein Verhältnis mit dem göttlichen „Du“ als ein Liebesverhältnis begreift, entspringt also nicht einem eigenen Selbstbewusstsein.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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