Michael Krügers Gedicht „Rede des Langsamen“

MICHAEL KRÜGER

Rede des Langsamen

Die Geschichte wird schneller,
bald holt sie uns ein und
läuft uns im Eilschritt voran.
Dann sehen wir die Eiszeit
von hinten, Griechenland,
Rom, die Französische Revolution,
Stalins Nacken, die Rücklichter
von Hitlers Auto.
Seltsam, daß sie nicht müde wird
und fällt.
Manchmal dreht sie sich um
und zeigt uns ihr Gesicht
mit dem offenen Mund
und den verfaulten Zähnen.

nach 1990

aus: Michael Krüger: Lagebesprechung. Hrsg. von Kurt Drawert. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt a.M. 2001

 

Konnotation

In einer Meditation über ein Bild des Malers Paul Klee (1879–1940) hat einst der Philosoph Walter Benjamin (1892–1940) die Allegorie vom „Engel der Geschichte“ entwickelt. Dieser Engel hat sein Antlitz der geschichtlichen Vergangenheit zugewendet und beobachtet dabei „eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft“. Es ist ein solcher Unheils-Engel der Geschichte, dem auch der 1943 geborene Dichter Michael Krüger ins Gesicht sieht.
Die Geschichte legt in Krügers nach 1990 entstandenem Gedicht ein gewaltiges Tempo vor; die prominenten Akteure der Historie sieht „der Langsame“, ein lyrisches Alter Ego Krügers, nur noch von hinten. Erst wenn dann die Geschichte ihr Antlitz zeigt, offenbart sie sich als Schreckensgestalt. Bei Walter Benjamin ist es ein furchtbarer Sturm vom Paradies her, der den Engel der Geschichte in die Zukunft treibt; seine Flügel kann er nicht mehr schließen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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