Nelly Sachs’ Gedicht „Abgewandt…“

NELLY SACHS

Abgewandt
warte ich auf dich
weit fort von den Lebenden weilst du
oder nahe.

Abgewandt
warte ich auf dich
denn nicht dürfen Freigelassene
mit Schlingen der Sehnsucht
eingefangen werden
noch gekrönt
mit der Krone aus Planetenstaub –

die Liebe ist eine Sandpflanze
die im Feuer dient
und nicht verzehrt wird –

Abgewandt
wartet sie auf dich –

1959

aus: Nelly Sachs: Fahrt ins Staublose. Die Gedichte Band 1. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1961

 

Konnotation

Ihr von Verlusterfahrungen geprägtes Dasein hat die deutsch-jüdische Dichterin Nelly Sachs (1891–1970) immer wieder als das „Durchschmerzen des Staubs“ umschrieben. Der „Staub“ wird in ihrem Œuvre zur zentralen metaphorischen Referenz auf das jüdische Volk und seine Geschichte der Verfolgung und des Exils. Im 1959 publizierten Zyklus „Flucht und Verwandlung“ vergegenwärtigt sie die Urszenen ihrer persönlichen Geschichte wie auch die nomadische Bewegung ihres Volkes.
Trotz einer unüberbrückbaren Distanz zwischen Ich und Du beharrt das Ich auf der alles überwindenden Kraft der Liebe. Als eine vom Feuer nicht eliminierbare „Sandpflanze“ leistet sie Widerstand gegen alle Verheerungen. Die Rede vom „Planetenstaub“ hat die Sachs-Forschung als Hinweis auf die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes „planetes“ gelesen, das „Umherschweifender, Wanderer“ bedeutet. Auch hier verweist also die lyrische Sprache von Nelly Sachs auf das heimatlose Umherschweifen des jüdischen Volks in der Diaspora.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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