Nelly Sachs’ Gedicht „DIESE NACHT…“

NELLY SACHS

DIESE NACHT
ging ich eine dunkle Nebenstraße
um die Ecke
Da legte sich mein Schatten
in meinen Arm
Dieses ermüdete Kleidungsstück
wollte getragen werden
und die Farbe Nichts sprach mich an:
Du bist jenseits!

1950er Jahre

aus: Nelly Sachs: Fahrt ins Staublose. Die Gedichte der Nelly Sachs. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1961

 

Konnotation

Als „Dichterin jüdischen Schicksals“ hatte man Leonie („Nelly“) Sachs (1891–1970) zunächst nur in der DDR wahrgenommen, bevor 1959/60 ihr gesamtdeutscher Ruhm einsetzte. Nur mit Hilfe der Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf war der Berliner Dichterin kurz vor der drohenden Deportation 1940 gemeinsam mit ihrer Mutter die Ausreise ins schwedische Exil gelungen. In der Situation äußerster Verlassenheit nach dem Tod ihrer Mutter 1950 entdeckte Nelly Sachs den Sohar, ein Hauptwerk der jüdischen Mystik. Die zentrale Kategorie des „Nichts“ ist darin keineswegs eine bloße Negation, sondern verweist auf „ein unendlich höheres Sein als alles andere Sein in der Welt“.
Die Begegnung mit dem „Schatten“, wie sie in diesem in den 1950er Jahren entstandenen Gedicht evoziert wird, meint eine mystische Offenbarung: Der Schatten gilt in der jüdischen Mystik als Wesensgestalt des Menschen – und das „Nichts“ als göttliche Instanz. Das lyrische Ich empfindet also die unmittelbare Nähe zum Göttlichen – eine Erfahrung, die in der modernen Lyrik nach 1945 ausgestorben schien.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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