Nora Bossongs Gedicht „Schlaflied“

NORA BOSSONG

Schlaflied

Wir hören das Pochen der Heizung,
der Sarg steht vorne im Saal,
wir knien uns nieder, aber können
die Blumen nicht riechen, die Kränze,
die Bänder, die Mutter singt leise
ein Schlaflied und schaukelt
vor schaukelt die Mutter
zum Vater, zu den Bändern,
zur Ruhe in Frieden, sie singt
ein Schlaflied, Kindlein Schlaf,
die Augen zu müde zum Warten,
die Nacht nur gelegen und Morgen
früh, wenn Gott will, die Stimme
der Mutter, da war der Vater nicht tot,
er deckte mich zu vor dem Schlafen,
die Mutter singt, was sie jetzt singt,
mit Rosen bedeckt, die Narzissen
zu gelb für den Winter.

2005/2006

aus: Nora Bossong: Reglose Jagd. Zu Klampen Verlag, Springe 2007

 

Konnotation

Eins der bekanntesten Kinder- bzw. Schlaflieder ist die Materialbasis für dieses tieftraurige Gedicht der 1982 geborenen Nora Bossong. Die Furcht einflößende Verheißung der Liedzeile: „Morgen früh, wenn Gott will, / wirst du wieder geweckt“ ist am Ausgangspunkt dieses Textes schon unerfüllbar geworden. In die Stille am Sarg des toten Vaters mischen sich Stimmen der Erinnerung, die Stimme der Mutter, die das Wiegenlied „Guten Abend, gute Nacht“ singt. In der Begegnung mit dem Tod stellt sich für das lyrische Ich die Gewissheit von Werden und Vergehen ein.
Nora Bossongs Gedichte geben vor, Geschichten zu erzählen, aber diese Geschichten lassen durch Verkürzungen und Verknappungen alles in der Schwebe, sie siedeln in einem Zwischenraum, in dem nichts auserzählt wird, sondern alles nur im Modus der Andeutung greifbar wird. Szenisch erfasste Momentaufnahmen aus der Alltagsempirie und Partikel sinnlicher Wahrnehmungen werden auf so fesselnde Weise in Versen miteinander verbunden, dass ein Erfahrungsraum entsteht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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