Otto Heinrich Kühners Gedicht „Der Azteke“

OTTO HEINRICH KÜHNER

Der Azteke

Ein etwa zwanzigjähriger Azteke
Kam neulich in eine Apotheke
Und verlangte zehn Schachteln Veronal.
Der Apotheker fand das höchst anomal,
Denn nach dem Wissen, das er erworben,
Waren die Azteken bereits ausgestorben.

Er gab auch deshalb aus seiner Sicht
Dem Azteken das Gewünschte nicht.

um 1960

aus: Otto Heinrich Kühner: Pummerer und andere skurrile Verse. Piper Verlag, München 1968

 

Konnotation

Als unermüdlicher Lieferant von lyrischen Eulenspiegeleien und „verblümten Halbwahrheiten“ für Tages- und Wochenzeitungen hat der Schriftsteller Otto Heinrich Kühner (1921–1996) in den 1960er Jahren ein eigenes Genre begründet: das grotesk-humoristische Gedicht, das aus der Verknüpfung unwahrscheinlicher Begebenheiten oder Lebensweltlicher Absonderlichkeiten seine skurrilen Effekte gewinnt.
Zwar kannten bereits die Azteken des Mittelalters magische Drogen-Kulte und stimulierende Rauschmittel, aber nach dem barbarischen Völkermord durch die Spanier Mitte des 16. Jahrhunderts wird es kein Azteke mehr geschafft haben, um 1960 in einer Apotheke westeuropäischen Zuschnitts zu landen. Verständlich also in diesem Gedicht die Reaktion des Apothekers. Obwohl er solche kleinen Heiterkeits-Kunstwerke in großer Zahl verfasste, ist Otto Heinrich Kühner heute vollkommen vergessen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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