Otto Julius Bierbaums Gedicht „Müde“

OTTO JULIUS BIERBAUM

Müde

Ich schließ die Thüre hinter mir,
Will ohne Gäste sein;
Ich hab mich selbst verlassen,
Drum bin ich so allein.

Ich mache alle Läden zu,
Was soll mir Tag und Licht.
Das Feuer ist verglommen,
Die Sonne brauch ich nicht.

Ich fühle gar kein Leben mehr;
die Liebe ist vorbei.
Ich kann nicht einmal weinen,
Aus mir ringt sich kein Schrei.

Ich habe keinen Gott und Freund
Und bin so sinnenleer,
Daß, wenn das Glück jetzt käme,
Ich fühlte es nicht mehr.

Ich schließ die Thüre hinter mir,
Bin nur für den zu Haus,
Von dem es heißt, er fächelt
Das letzte Flämmchen aus.

1910

 

Konnotation

Als Mitbegründer des politischen Kabaretts in Deutschland träumte der Berliner Boheme-Literat Otto Julius Bierbaum (1865–1910) von einer „Renaissance aller Künste und des ganzen Lebens vom Tingeltangel her“. Bereits vor dem neuen Kabarett-Boom hatte er 1897 in seinem Roman Stulpe eine unbescheidene Vision formuliert: „Wir werden diese alberne Welt umschmeißen! Das Unanständige werden wir zum einzig Anständigen krönen!“ Mit schnoddrigen und melancholisch-balladesken Versen eroberte Bierbaum das Publikum. Sein Gedichtband Der Irrgarten der Liebe (1901) wurde zum erfolgreichsten Gedichtbuch der Jahrhundertwende.
Bei der Konstruktion solcher lyrischen Ohrwürmer liegt die Versuchung nahe, sich bereitwillig einem sich verselbständigenden „Reimkarussell“ – so ein Gedichttitel Bierbaums – zu überlassen. Die Nähe dieser chansonhaften Gedichte zum leichtfüßigen Schlager ist unübersehbar. Thomas Mann glaubte an die historische Langlebigkeit dieser „sangbaren Lieder“. Ein Irrtum: Der lyrische Popstar der vorletzten Jahrhundertwende ist heute vergessen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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