Paul Scheerbarts Gedicht „Moderner Gassenhauer“

PAUL SCHEERBART

Moderner Gassenhauer

Der Eremit ist dick und groß;
Er haßt die Nebenmenschen bloß.
Er liebt nur seine Klause
Und bleibt daher zu Hause.
Die ganze Welt ist ihm Pomade.
Die Nebenmenschen sagen: schade!
Das aber rührt den Teufel nicht.
Hat er nur stets sein Leibgericht,
So ist ihm alles piepe –
Der Haß und auch die Liepe.

1909

 

Konnotation

Dem Dichter Paul Scheerbart (1863–1915) genügte es nicht, als Schriftsteller eine exzellente Fachkraft zu sein. Er wollte höher hinaus und auch in anderen Kunstdisziplinen wildern: als Architektur-Phantast, Astralhumorist und hedonistischer Philosoph. Mit exzentrischen Lautgedichten und dem „Monolog des verrückten Mastodons“ (1901) wurde er zum Vorläufer des Dadaismus. Bescheidenen Ruhm erlangte er mit seiner Katerpoesie (1909), einer Sammlung mit grotesk-kauzigen und schwarzhumoriqen Knittelversen.
In seinem „Modernen Gassenhauer“ ist Scheerbart allen Chansonniers des 20. Jahrhunderts weit voraus. Die heroischen Genie-Ideale der Kunst („der Eremit“) werden von ihm ebenso verspottet wie die Sentimentalitäten des Schlagers („Der Haß und auch die Liepe“). Man darf es skandalös nennen, dass momentan alle Sammlungen mit Scheerbart-Gedichten vergriffen sind.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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