Peter Maiwalds Gedicht „Merkzettel“

PETER MAIWALD

Merkzettel

Die schönen Frauen
die ich nicht beschlief.

Das Vaterland
das ich nicht rief.

Die Traumgedichte
die ich mir nicht schrieb.

Sankt Brandans Insel
die mir übrigblieb.

Die Druckerei
die mich nicht druckt.

Der feige Tag
da ich nicht aufgemuckt.

Das schöne Leben
das ich nicht geführt.

Das ganze Elend
das mich nicht gerührt.

1992

aus: Peter Maiwald: Springinsfeld. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1992

 

Konnotation

Auf dem „Merkzettel“ des politisch ambitionierten Dichters Peter Maiwald (geb. 1946) scheint nur eine Inventar-Liste des universellen Scheiterns zu stehen. In lakonischen Zweizeilern resümiert das lyrische Subjekt sein Leben, das, wie die Negationen besagen, aus noch nicht erfüllten Träumen und Wünschen besteht. Es gibt offenbar kein „schönes Leben“ in der Gesellschaft, in der sich dieses Ich situiert hat.
Nur ein Ort ist für das Ich begehbar: „Sankt Brandans Insel“, jene legendäre Zwischenstation seefahrender Mönche des Mittelalters, die sich auf ihrer unendlichen Fahrt nach dem „Land der Heiligen“ im Kreis bewegen. Aber der Titel des Gedichts deutet an, dass diese Fahrt zum Verheißenen Land noch nicht zu Ende ist: Ein „Merkzettel“ hat ja die Funktion, Stichworte für noch ausstehende Projekte und noch nicht realisierte Handlungen festzuhalten. Daher ist auch eine Zukunft möglich, in der sich die Utopien des Ich verwirklichen lassen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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