Ralf Theniors Gedicht „Einfache Dinge“

RALF THENIOR

Einfache Dinge

Jeden Tag geschehen einfache Dinge
um mich herum; geflüstertes Türkisch
im Hausflur, vorbeischwankende Schirme,
ein Knopf wird angenäht,
ein Essen schmeckt, Gedichte,
langsam werde ich fetter.

Preis für den Anblick der einfachen Dinge
ist eine große Mühe oder ein Schnaps
oder eine Tablette oder ein Joint.
Und dann sitzen wir da und
sehen die einfachen Dinge.

Warum versucht die Hauswartsfrau
ihren Machtbereich auszudehnen?
Warum spreche ich so oft defensiv,
um die anderen nicht heranzulasssen?

1976/77

aus: Ralf Thenior: Traurige Hurras. Gedichte und Kurzprosa. AutorenEdition bei C. Bertelsmann. München 1977

 

Konnotation

Das Gedicht“, hat der 1945 geborene Ralf Thenior einmal notiert, „ist ein transitorischer Moment, ein winziger Augenblick festgehaltenen Lebens – wir spüren, dass wir noch da sind.“ Sein schönes Debütbuch Traurige Hurras (1977), in dem Thenior viele solcher punktuellen Alltags- und Selbsterkundungen festgehalten hat, ist eins der inspiriertesten Dokumente aus der Zeit der „Neuen Subjektivität“.
Die Beschwörung der alltäglichen Lebenswelt, vorgetragen in einem Ton kolloquialer Lässigkeit und Direktheit, wurde nach der Niederlage der 68er Generation zum poetologischen Grundsatzprogramm der neuen Lyrik. Einige Autoren träumten davon, die Revolte der außerparlamentarischen Opposition mit ihren Gedichten ästhetisch fortzusetzen. Andere, wie Ralf Thenior, konzentrierten sich auf „die einfachen Dinge“ in ihrem privaten Mikrokosmos: auf Beobachtungen vom Dasein als permanentem Krisenzustand.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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