Ricarda Huchs Gedicht „Du kamst zu mir, mein Abgott, meine Schlange“

RICARDA HUCH

Du kamst zu mir, mein Abgott, meine Schlange

Du kamst zu mir, mein Abgott, meine Schlange,
In dunkler Nacht, die um dich her erglühte.
Ich diente dir mit Liebesüberschwange
Und trank das Feuer, das dein Atem sprühte.
Du flohst, ich suchte lang in Finsternissen.
Da kannten mich die Götter und Dämonen
An jenem Glanze, den ich dir entrissen,
Und führten mich ins Licht, mit dir zu thronen.

um 1910

aus: Ricarda Huch: Gesammelte Werke. Fünfter Band. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1971

 

Konnotation

Eine unglückliche Liebe steht als motivische Signatur über dem lyrischen Werk von Ricarda Huch (1864–1947), der Historikerin und Dichterin, die ihre wissenschaftliche und ihre literarische Arbeit zu einer fruchtbaren Koexistenz geführt hat. Mit 16 Jahren verliebte sich Ricarda in ihren Cousin Richard Huch, aber er war unglücklicherweise nicht nur ihr Cousin, sondern der Mann ihrer Schwester Lilly: „Ich stand in Flammen“. Über viele Jahre hinweg blieb diese fatale Konstellation bestehen – eine Antriebskraft auch für pathetische Liebesgedichte.
Erst zwanzig Jahre nach der verbotenen Leidenschaft konnte Huch den Mann ihres Lebens heiraten. Drei Jahre später, 1910, war die Passion zerbrochen. Aus diesen Jahren stammt das Gedicht, das mit sehr pathetischen Beschwörungen operiert. Die erste Zeile der Oktave enthält auch eine schroffe Ambivalenz. Der Geliebte ist „Abgott“ und „Schlange“ zugleich – der leidenschaftlich Angebetete ist zugleich eine Ausgeburt der Infamie.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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