Ricarda Huchs Gedicht „Wo hast du all die Schönheit hergenommen“

RICARDA HUCH

Wo hast du all die Schönheit hergenommen

Wo hast du all die Schönheit hergenommen,
Du Liebesangesicht, du Wohlgestalt!
Um dich ist alle Welt zu kurz gekommen.
Weil du die Jugend hast, wird alles alt,
Weil du das Leben hast, muß alles sterben,
Weil du die Kraft hast, ist die Welt kein Hort,
Weil du vollkommen bist, ist sie ein Scherben,
Weil du der Himmel bist, gibt’s keinen dort!

1907

 

Konnotation

Dass ein Liebesgedicht im Tonfall einer Anklage vorgetragen wird, ist sehr ungewöhnlich für dieses Genre. Das Entzücken über die „Schönheit“ und „Wohlgestalt“ des Geliebten will sich hier nicht recht einstellen, denn das „Liebesangesicht“ verurteilt die Mitwelt zu furchtbaren Opfern. Das 1907 erstmals veröffentlichte Gedicht der neo-romantischen Erzählerin und Literaturhistorikerin Ricarda Huch (1864–1947) bedenkt die Folgelasten der Leidenschaft für den „vollkommenen“ Einen.
1907 noch unter dem Titel Neue Gedichte veröffentlicht, gab Ricarda Huch der Neuauflage des Bandes 1913 den Titel Liebesgedichte. Je näher man das Gedicht anschaut, desto unsicherer wird, ob die Gestalt des „vollkommenen“ Geliebten irdischer Natur ist oder ob wir es nicht eher mit einer göttlichen Instanz zu tun haben. Zu bedenken ist aber auch der autobiografische Hintergrund: Zum Zeitpunkt der Niederschrift des Gedichts war Ricarda Huchs erste Ehe gerade zerbrochen, und die Dichterin stürzte sich in die unheilvolle Verbindung mit dem früheren Ehemann ihrer älteren Schwester.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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