Rolf Bosserts Gedicht „Das Ungetier“

ROLF BOSSERT

Das Ungetier

Vor langen Jahren lebte mal
Ein seltsam Ungetier;
Es lebte frei, nach seiner Wahl,
Mal dorten und mal hier.

Die Ungetiere waren froh,
Sie freuten sich drauflos;
Sie warn mal so, dann wieder so,
Mal klein, mal riesengroß.

Sie hatten uns nichts angetan,
Drum sterben sie heut aus.
Das letzte hält ein weiser Mann
Versteckt in seinem Haus.

1982

aus: Rolf Bossert: Ich steh auf den Treppen des Winds, Schöffling & Co., Frankfurt a.M. 2006

 

Konnotation

Rolf Bossert (1952–1986), der Dichter aus der rumänischen Kleinstadt Busteni im Karpatengebirge, war die herausragende Gestalt der so genannten Aktionsgruppe Banat, einer sehr eigensinnigen rumäniendeutschen Dichtergruppe im despotischen Sozialismus des Conducators Nicolae Ceausescu. Von den kulturpolitischen Instanzen Ceausescus zunächst gefördert, tat sich in Bosserts Werk bald schmerzhaft jener Riss zwischen Staatsästhetik und poetischem Autonomieverlangen auf, der nicht mehr zu kitten war.
In seinen ersten Texten hatte Bossert viel mit traditionellen Liedformen und Kinderreimen experimentiert; nach seinem Ausreiseantrag 1984 trieb er den poetischen Fatalismus und den scharfen Widerspruch gegen staatliche Repression immer weiter voran. Selbst in seinem 1982 entstandenen Kindergedicht „Das Ungetier“ schwingen politische Anspielungen mit: Es geht um den schwindenden Spielraum für gesellschaftliche Außenseiter und um die erbarmungslose Jagd, die gegen sie angezettelt wird.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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