Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Gedicht“

ROLF DIETER BRINKMANN

Gedicht

Zerstörte Landschaft mit
Konservendosen, die Hauseingänge
leer, was ist darin? Hier kam ich

mit dem Zug nachmittags an,
zwei Töpfe an der Reisetasche
festgebunden. Jetzt bin ich aus

den Träumen raus, die über eine
Kreuzung wehn. Und Staub,
zerstückelte Pavane, aus totem

Neon, Zeitungen und Schienen
dieser Tag, was krieg ich jetzt,
einen Tag älter, tiefer und tot?

Wer hat gesagt, daß sowas Leben
ist? Ich gehe in ein
anderes Blau.

nach 1970

aus: Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2Rowohlt Verlag. Reinbek 1975

 

Konnotation

In den phänomenalen Gedichten seines Bandes Westwärts 1 & 2 (1975) hat der Dichter Rolf Dieter Brinkmann (1940–1975), der wilde Solitär unter den Lyrikern der „Neuen Subjektivität“, den „Verrottungszusammenhang“ der westlichen Zivilisation sichtbar gemacht. Überall registriert er in seinen „Collagen des alltäglichen langsamen Irrsinns“ die Verödung der Städte, Landschaften und Menschen.
Mitten durch den „Gespensteralltag“ und die „zerstörte Landschaft“ bewegt sich hier ein zielloser Reisender, der den Ort seiner Ankunft nur als Zwischenstation begreift auf der langen Suche nach dem eigenen Ich. Zwischen den leblos wirkenden Stadtkulissen, zwischen Staub, „totem Neon“ und „zerstückelten Pavanen“ (Pavane ist eigentlich ein Schreittanz) gibt es offenbar noch Reste von Utopie. Denn am Ende des nach 1970 entstandenen Gedichts verkündet das Ich stolz den Aufbruch in eine Verheißung – ins Blau, zur Farbe der Sehnsucht und zum „Südwort schlechthin“ (Gottfried Benn).

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00