Sarah Kirschs Gedicht „Allerleirauh“

SARAH KIRSCH

Allerleirauh

Aber am schönsten: mit dir
Oder ohne dich
Über die Boulevards laufen nichts im Gepäck
Als Rosinenbrot, Wein und Tabak
Die Leute der Länder festhalten
Im Auge und später
Sprechen davon, den Himmel beschreiben den Schnee
Du kommst mit dem Westwind und ich
Aus dem Norden, wir tragen
Das alles zusammen, die winzigen Pferde
Die senkrechten Palmen, die Sterne, Kaffeemaschinen
Nachmittags halb nach vier, wenn die Glocke
Im Käfig schaukelt und schreit

1979

aus: Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005

 

Konnotation

Ursprünglich kreist das Grimmsche Märchen von „Allerleirauh“, der Königstochter, um ein skandalöses Inzestbegehren. Als Nachfolgerin für seine verstorbene Ehefrau hat der König seine eigene Tochter erwählt, die ebenso schön ist wie die verstorbene Gattin. Die Tochter entzieht sich dieser Zumutung durch Flucht und Maskierung, bis sie durch einen benachbarten König endlich zu einer legitimen und glücklichen Liebe findet.
1988 gab die 1935 geborene Sarah Kirsch, die einzigartige Vertreterin poetischer Naturmagie, der Chronik ihres Lebens den Titel „Allerlei-Rauh“. Aber bereits 1979 vollzog sie im Gedichtband Drachensteigen eine lyrische Identifikation mit der listigen Königstochter des Märchens. Das Gedicht bekennt sich zum anarchischen Eigensinn der Liebe und zum Abenteuer des nomadisierenden Unterwegsseins. Aus der Zerstreuung finden die Liebenden vielleicht wieder zusammen. Aber um den Preis einer partiellen Gefangenschaft, wie sie in den rätselhaften Schlussversen angedeutet wird: „… wenn die Glocke / Im Käfig schaukelt und schreit“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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