Sarah Kirschs Gedicht „Schneelied“

SARAH KIRSCH

Schneelied

Um den Berg um den Berg
Fliegen sieben Raben
Das werden meine Brüder sein
Die sich verwandelt haben

Sie waren so aufs Essen versessen
Sie haben ihre Schwester vergessen
Sie flogen weg die Goldkuh schlachten
Ach wie sie lachten

Eh sie zur Sonne gekommen sind
Waren sie blind

Mein Haus ich blas die Lichter aus
Bevor ich schlafen geh
Kann ich die schwarzen Federn sehn
Im weißen gefrorenen Schnee

1967

aus: Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte. Deutsche Verlagsanstalt, München 2005

 

Konnotation

Im Märchen der Gebrüder Grimm von den „sieben Raben“ werden sieben hilfsbereite Knaben durch eine Art Strafaktion ihres Vaters in kohlschwarze Vogel verwandelt. Die sieben Jungen erscheinen hier als unschuldige Opfer einer Verwünschung, glaubt ihr Vater doch, sie hätten das Taufwasser für ihr todgeweihtes Schwesterlein veruntreut. Die 1935 geborene Natur- und Landschaftsdichterin Sarah Kirsch erzählt nun in volksliedhaftem Ton diese Geschichte völlig neu.
In dem 1967 erstmals publizierten Gedicht werden die Schuldverhältnisse neu definiert: Die Raben sind hier bösartige, geldgierige Wesen, deren Ende von der zurückgelassenen Schwester beinahe mit Genugtuung registriert wird. Der Flug zur Sonne, bei den Grimms die Domäne der Schwester, wird den Raben zum Verhängnis. Am Ende erleiden sie das Schicksal des mythischen Ikarus, der der Sonne zu nahe kam und mit geschmolzenen Flügeln zur Erde stürzte.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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