Sarah Kirschs Gedicht „Schwarze Bohnen“

SARAH KIRSCH

Schwarze Bohnen

Nachmittags nehme ich ein Buch in die Hand
Nachmittags lege ich ein Buch aus der Hand
Nachmittags fällt mir ein es gibt Krieg
Nachmittags vergesse ich jedweden Krieg
Nachmittags mahle ich Kaffee
Nachmittags setze ich den zermahlenen Kaffee
Rückwärts zusammen schöne
Schwarze Bohnen
Nachmittags ziehe ich mich aus mich an
Erst schminke dann wasche ich mich
Singe bin stumm

1968

aus: Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005

 

Konnotation

Diese lapidare lyrische Chronik eines tristen Nachmittags ließ 1968 die Literaturpolitiker der DDR Alarm schlagen. Die eher unspektakuläre Litanei der Dichterin Sarah Kirsch (geb. 1935) wurde als Ausdruck einer „spätbürgerlichen Position der Aussichtslosigkeit“ interpretiert. Der hier fast indifferent vorgetragene Befund, dass „es Krieg gibt“, widersprach allen Vorstellungen eines auf Engagement abonnierten sozialistischen Realismus – und so setzten die Literaturfunktionäre alles daran, die 1968 im Aufbau Verlag erschienene Anthologie Saison für Lyrik, in der das Kirsch-Gedicht erschienen war, zu makulieren.
Das lyrische Ich grenzt sich hier demonstrativ ab von allen Arten eines „eingreifenden“ oder „operativen“ Schreibens. Die Lektüre eines Buches wird fast ebenso passiv und distanziert vollzogen wie die Reaktion auf einen Krieg. Diese Art von Alltags-Inventur war für die Gralshüter der DDR-Literatur unerträglich. Sarah Kirsch konnte erst Jahre später das Gedicht in ihrem epochalen Band Zaubersprüche ( 1973) wiederveröffentlichen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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