Sibylla Schwarz’ Gedicht „Mein Alles ist dahin / mein Trost in Lust und Leiden / …“

SIBYLLA SCHWARZ

Mein Alles ist dahin / mein Trost in Lust und Leiden /
mein ander Ich ist fort / mein Leben / meine Zier /
mein liebstes auff der Welt ist wegk / ist schon vohn hier.
(die Lieb’ ist bitter zwahr / viel bittrer ist das Scheiden)

Ich kan nicht vohn dir seyn / ich kan dich gantz nicht meiden
O liebste Dorile! Ich bin nicht mehr bey mir /
Ich bin nicht der ich bin / nuhn ich nicht bin bey dir.
Ihr Stunden lauft doch fort / wolt ihr mich auch noch neiden?

Ey Phoebus halte doch die schnelle Hengste nicht!
Fort / fort / ihr Tage fort / komb bald du Monden Licht!
Ein Tag ist mir ein Jahr / in dem ich nicht kan sehen

mein ander Sonnenlicht! fort / fort / du faule Zeit /
spann doch die Segel auff / und bring mein Lieb noch heut /
und wan sie hier dan ist / so magstu langsam gehen.

1637/38

 

Konnotation

Das Beispiel einer frühreif-genialischen Dichterin liefert das Werk der aus Greifswald stammenden Barockdichterin Sibylla Schwarz (1621–1638): Sie war gerade mal siebzehn Jahre alt, als sie an Ruhr erkrankte und am Hochzeitstag ihrer Schwester elend starb. Die Königsdisziplinen der Gattung Lyrik – das Sonett und die Ode – beherrschte schon die junge Bürgermeisterstochter virtuos. Die Themen, die sie wählte, sind zeitlos: Liebe, Liebesleid, Trennung und Sehnsucht.
Das Werk der Dichterin hat ihr Lehrer Samuel Gerlach (1609–1683) in Danzig unter dem Titel Deutsche Poetische Gedichte in zwei Teilen posthum veröffentlicht. Das Sonett vergegenwärtigt die ewig-schmerzvolle Geschichte von Liebe und Liebesverlust. Der Geliebte, der als das andere Ich aufgerufen wird, ist unwiderruflich verloren. Alles steht fortan unter dem Zeichen des Liebesschmerzes, selbst die Kategorie der Zeit verliert ihre Geltung. Die Allmacht der Liebe erhält hier wie in motivverwandten Gedichten einen römischen Götternamen: Phöbus (=Apollon).

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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