Simone Borowiaks Gedicht „Ein Spirituosenleben“

SIMONE BOROWIAK

Ein Spirituosenleben

Frau Magenbitter haut’s vom Stuhl,
Herr Doornkaat liegt daneben.
Eifrig bemüht sich Pommery,
versucht sie aufzuheben.

Dem jungen Korn ist nichts mehr klar.
Frau Gin sieht eine Maus.
Herr Pils beugt sich zu weit nach vorn
und fällt zur Flasche raus.

Alles verdunstet, schwappt und ölt,
entkorkt sich auf den Tischen.
Auch Fräulein Selters geht es schlecht:
Sie muß hier morgen wischen.

1993

aus: Die komischen Deutschen. Hrsg. von Steffen Jacobs. Zweitauendeins Verlag, Frankfurt am Main, 2004

 

Konnotation

Heute blau, morgen blau und übermorgen wieder“: Mit dieser durchaus bekenntnishaften Sentenz eröffnet der 1964 geborene Simon Borowiak, der vor dem Wechsel der sexuellen Identität als Simone Borowiak einigen Ruhm als Titanic-Kolumnistin und Satirikerin erworben hatte, ein 2006 veröffentlichtes Sachbuch über den Alkoholismus. Als eine Art komische Vorschau auf diese Expedition in die Hölle von Rausch, Kontrollverlust Entgiftung und Entzug lässt sich das Gedicht über das „Spirituosenleben“ lesen, in dem Borowiak hochprozentige Getränke als Subjekte zum Gruppenbild versammelt.
Die Heiterkeit, mit der hier ein Trinkgelage besungen wird, ist doppelbödig. Denn den Teilnehmern der alkoholischen Runde, die mit den von ihnen konsumierten Spirituosenmarken identisch geworden sind, wird langfristig die Fröhlichkeit abhanden kommen. Das „Spirituosenleben“, das in dem 1993 erstmals publizierten Gedicht humoristisch aufgerufen wird, mündet in jenes Elend, das ausführlich in Borowiaks Studie „Alk“ analysiert wird.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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