Sophie Mereaus Gedicht „Die Nachtigall“

SOPHIE MEREAU

Die Nachtigall

Kalt ist der Morgen und trüb’, es tönt durch die bebenden Zweige
nur der Nachtigall Lied mild in dem brausenden Sturm;
wunderbar lauschet der Hain: so tönt durch die Stürme des Lebens
nur der Liebe Accent, alles verklärend, hindurch.

um 1800

 

Konnotation

Sechs Jahre seines Lebens war Clemens Brentano (1778–1842) seiner obsessiven Liebe zur „vortreflichen Dichterin Professor Mereau“ verfallen, die er im Herbst 1798 im Kreise der Jenaer Romantiker kennen gelernt hatte. Die Angebetete selbst war damals noch unglücklich verstrickt in die „unvermeidliche Ehestands-Kälte“ mit einem Jura-Professor und versuchte sich von ihrem Unglück durch allerlei Affären zu heilen. Im Gegensatz zu Brentano hatte Sophie Mereau (1770–1806) schon als Dichterin reüssiert – wurde aber durch die besitzergreifende Liebe Brentanos zunehmend vom Schreiben abgehalten.
Im freien Alexandriner dieses Vierzeilers stellt Mereau die Stimme der Poesie, die hier symbolisch im „Lied der Nachtigall“ aufgerufen wird, den wechselhaften „Stürmen des Lebens“ antithetisch gegenüber. „Der Liebe Accent“ erscheint als klangliche Energie, als ein „alles verklärendes“ Tönen, das über alle Schicksalsschläge hinweg trägt. Die romantische Emanzipationsidee der Dichterin scheiterte an Brentanos Vereinnahmungswillen: Nach der Geburt ihres vierten Kindes starb Mereau im Kindbett.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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