Stefan Georges Gedicht „vogelschau“

STEFAN GEORGE

vogelschau

Weiße schwalben sah ich fliegen ·
Schwalben schnee- und silberweiß ·
Sah sie sich im winde wiegen ·
In dem winde hell und heiß.

Bunte häher sah ich hüpfen ·
Papagei und kolibri
Durch die wunder-bäume schlüpfen
In dem wald der Tusferi.

Große raben sah ich flattern ·
Dohlen schwarz und dunkelgrau
Nah am grunde über nattern
Im verzauberten gehau.

Schwalben seh ich wieder fliegen ·
Schnee- und silberweiße schar ·
Wie sie sich im winde wiegen
In dem winde kalt und klar!

1892

 

Konnotation

Sein Ideal einer „Kunst um der Kunst willen“ fand der junge Stefan George (1868–1933) in Paris, bei den Symbolisten um Stephane Mallarmé. Dort entstand 1892 auch der meisterhafte „Algabal“-Zyklus, der in einem weiß eingeschlagenen Heft in einer Auflage von nur 100 Exemplaren erschien. Algabal ist bei George die narzisstische Gestalt eines kaiserlichen Priesters, zugleich ein heroischer Schöpfer, der sich künstliche Paradiese erschafft.
Im Schlussgedicht des „Algabal“-Zyklus, der „Vogelschau“, werden in den vier Strophen die verschiedenen Lebensphasen der Algabal-Gestalt poetisch rekonstruiert. So widmet sich die zweite Strophe dem ästhetischen Selbstgenuss des jungen Algabal, während der dritte Abschnitt das positive Bild der bunten Vögel dementiert durch das beklemmende Motiv der schwarzen Raben und Dohlen. Erst die Schlussstrophe kehrt zum Ausgangspunkt, zum Bild der Reinheit mit den weißen Schwalben zurück. Aber jetzt ist das Bild in eine kalte Kunstwelt transformiert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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