Steffen Jacobs’ Gedicht „Alp“

STEFFEN JACOBS

Alp

Wir sind der Welt
aufs Dach gestiegen.
Die Aussicht war nicht schlecht.

Wir sind nicht lange
dort geblieben. Der
Schwindel war zu echt.

Es fehlte wohl am
langen Atem. Es fehlte
wohl an dem und dem.

Wir sind der Sonne
nah geraten. Jetzt
stocken wir im Le-, im Lehm. 

1992

aus: Steffen Jacobs: Der Alltag des Abenteurers. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1996

 

Konnotation

Die kühne Annäherung an die Sonne wurde schon dem mythischen Flüchtling Ikarus zum Verhängnis. Die von seinem Vater Dädalus konstruierten Flügel aus Wachs schmolzen –  und Ikarus stürzte ab und mit ihm der Traum vom Fliegen. Die Aufbruchsbewegung in Richtung Sonne erproben auch die lyrischen Helden des 1968 geborenen Dichters Steffen Jacobs. Der meist auf humoristische und sarkastische Pointen abonnierte Jacobs setzt in seinem 1992 erstmals veröffentlichten Liebespoem einen melancholischen Akzent.
Der euphorische Aufstieg eines lyrischen „Wir“ wird in dem Gedicht rasch gebremst. Statt großer Gemeinsamkeiten entdeckt man vor allem Unzulänglichkeiten und Verluste. Das lakonische Resümee mündet in eine Bilanz des Scheiterns, die bei aller Negativität durch eine heitere Schlusszeile austariert wird –  mithilfe der vokalischen Verschleifung von „Leben“ zu „Lehm“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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