Theodor Fontanes Gedicht „Mein Leben“

THEODOR FONTANE

Mein Leben

Mein Leben, ein Leben ist es kaum,
Ich gehe dahin, als wie im Traum.

Wie Schatten huschen die Menschen hin.
Ein Schatten dazwischen ich selber bin.

Und im Herzen tiefste Müdigkeit –
Alles sagt mir: Es ist Zeit.

1892

 

Konnotation

Im Jahr 1892 durchlebt der große Epiker und Dichter Theodor Fontane (1819–1898) eine lebensbedrohliche gesundheitliche Krise. Nach seinen kräftezehrenden und wenig ertragreichen Versuchen, sich als Publizist, Zulieferer einer ministeriellen Presseabteilung und als Theaterkritiker zu etablieren, scheint er mit seiner literarischen Kraft am Ende zu sein. Erst mit Beginn der autobiografischen Aufzeichnungen Meine Kinderjahre gewinnt er eine Stabilität zurück – und es gelingt ihm der Durchbruch zu seinem Erfolgsroman Effi Briest (1895). Zuvor hatte der 73jährige mit seinem Leben schon abgeschlossen.
Das 1892 entstandene Gedicht liest sich wie eine Bestandsaufnahme aus dem Schattenreich: Das Ich hat schon die Zone der Lebenden verlassen und scheint in das Kraftfeld des Todes überzugehen. Das einzige Lebenszeichen, das noch möglich ist, ist das Konstatieren einer tiefen Daseinsmüdigkeit. Als letzte Akteurin auf der Bühne des Lebens agiert die Vergänglichkeit.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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